Gedanken zur Revision der Strafprozessordnung

Gleichzeitig eine kritische Würdigung ausgewählter Aspekte aus Sicht der StrafverteidigungAutor: Dr. iur. Bernhard Isenring
Gedanken zur Revision der Strafprozessordnung

1. 10 Jahre StPO: Kaum in Kraft, schon revisionsbedürftig?

Bereits kurz nach Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung per 1. Januar 2011 wurden im Zuge deren Anwendung in der Praxis zahlreiche kritische Stimmen laut. Auf politischer Ebene folgten diverse Motionen, Postulate, sowie parlamentarische und kantonale Initiativen zu (punktuellen) Änderungen der Strafprozessordnung. Statt die diversen Vorstösse einzeln zu behandeln, haben sich die eidgenössischen Räte letztlich dazu entschieden, eine allfällige Revision der StPO im Rahmen einer Gesamtschau anzugehen.

Nach Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur «Prüfung der Praxistauglichkeit» der StPO wurde im Dezember 2017 ein Vorentwurf für eine Revision in die Vernehmlassung geschickt, in deren Rahmen unter anderem seitens des Schweizerischen Anwaltsverbands (SAV) – m. E. zurecht – darauf hingewiesen wurde, dass die Vorlage die Waffengleichheit weiter schwäche, zumal die bereits stark ausgeprägten Kompetenzen der Strafverfolgungsbehörden zulasten der Verteidigungsrechte und der Justiz erweitert würden. Im Fokus standen diesbezüglich insbesondere die Regelung betreffend die Einschränkung der Teilnahmerechte der beschuldigten Person an Beweiserhebungen – insbesondere Einvernahmen –, die Verschärfung der Bestimmung über Untersuchungshaft bei Wiederholungsgefahr, sowie auch das Haftbeschwerderecht der Staatsanwaltschaft.

Dennoch verabschiedete der Bundesrat am 28. August 2019 eine Botschaft und einen Revisionsentwurf ans Parlament, wobei in zentralen Punkten – praktisch ausschliesslich zulasten der Beschuldigten – erheblich vom Vorentwurf abgewichen worden ist. So wurde insbesondere die Regelung betreffend die Einschränkung der Teilnahmerechte der beschuldigten Person an Beweiserhebungen weiter und deutlich verschärft.

Erstrat in der parlamentarischen Beratung war der Nationalrat. Dessen Rechtskommission (RK NR) schlug im vergangenen Herbst diverse Änderungen am Botschaftstext vor, welche in der Frühjahrssession 2021 vom Nationalrat einlässlich beraten worden sind. Derzeit liegt das Geschäft beim Ständerat, dessen Rechtskommission zunächst Anhörungen von Vertretungen der Kantone, der Staatsanwaltschaft, der Richterschaft, der Anwaltschaft sowie der Wissenschaft durchgeführt hat und die Detailberatung demnächst aufnehmen wird.

 

2. Ergebnisse der Beratungen im Nationalrat

2.1 Vorbemerkungen

Aus Sicht der Verteidigung enthält der Entwurf des Bundesrates diverse Bestimmungen, welche massgebliche Verschlechterungen für die beschuldigte Person beinhalten. Nachfolgend werden zu ausgewählten Punkten die – aus Sicht der Verteidigung teilweise erfreulichen, teilweise ernüchternden – Ergebnisse der Beratungen im Nationalrat beleuchtet. Diese wiederspiegeln den aktuellen Stand des Gesetzgebungsprojektes.

 

2.2 Einschränkung der Teilnahmerechte der beschuldigten Person (Art. 147a E-StPO)

Die vom Bundesrat vorgesehene Beschränkung des Teilnahmerechts der beschuldigten Person in der Gestalt, dass diese von einer Einvernahme ausgeschlossen werden kann, solange sie sich «zum Gegenstand der Einvernahme nicht einlässlich geäussert hat», höhlt das in Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO garantierte Aussageverweigerungsrecht der beschuldigten Person komplett aus bzw. führt faktisch zu einer Mitwirkungspflicht. Damit verletzt der Regelungsvorschlag des Entwurfs grundlegende strafprozessuale Prinzipien in ihrem Kern und ist insbesondere auch mit dem völker- und verfassungsrechtlich garantierten Recht auf ein faires Verfahren unvereinbar.

Dies hat wohl auch die RK NR erkannt, hat sich doch eine Mehrheit für die Streichung der vom Bundesrat vorgesehenen Bestimmung in Art. 147a E-StPO ausgesprochen. Daneben gab es allerdings drei weitere Minderheitsanträge, darunter auch den Antrag auf Annahme der Bestimmung gemäss Botschaft.

In der Schlussabstimmung im Nationalrat hat sich erfreulicherweise der Mehrheitsantrag gegenüber dem Minderheitsantrag III mit 103 zu 85 Stimmen durchgesetzt. Abzuwarten bleibt nun die Diskussion im Ständerat und dessen Entscheid. Dabei ist aus rechtsstaatlicher Sicht zu hoffen, dass es bei der vom Nationalrat beschlossenen Streichung von Art. 147a E-StPO bleibt.

 

2.3 Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1bis E-StPO)

Das bisherige Recht verlangt in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO für die Annahme des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr drei (mutmassliche) Delikte: das vergangene, das untersuchte und das künftig befürchtete, wobei alle drei gleichartig sein müssen. Nachdem das Bundesgericht in Missachtung des Wortlauts bereits Entscheide gefällt hat, in welchen trotz fehlendem Vordelikt die Annahme von Wiederholungs- bzw. Fortsetzungsgefahr allein wegen des angeblich begangenen und des künftig befürchteten Delikts für zulässig erklärt wurde, soll nun gemäss Entwurf des Bundesrates der neue Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr in Art. 221 Abs. 1bis E-StPO aufgenommen werden, welcher auf das Erfordernis der begangenen Vortat verzichtet.

Obwohl die Botschaft selbst darauf hinweist, dass es sich beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr in erster Linie um Präventivhaft – d.h. um eine sichernde, polizeiliche Zwangsmassnahme – handelt, welcher damit einen Fremdkörper innerhalb des Strafprozessrechts darstellt, hat sich die RK NR gar mehrheitlich dafür ausgesprochen, die bundesrätliche Vorlage noch zusätzlich zu verschärfen. So soll es genügen, wenn eine ernsthafte – nicht aber unmittelbare – Gefahr der Wiederholung besteht.

Bedauerlicherweise ist der Nationalrat diesem Antrag deutlich gefolgt. Bedauerlich, weil der Haftgrund der Wiederholungsgefahr per se nur in untergeordneter Weise Strafverfolgungszwecken dient, sondern überwiegend eine nicht in die StPO gehörende präventive und damit polizeiliche Massnahme darstellt. Bedauerlich aber auch deshalb, weil der Wortlaut in Art. 221 Abs. 1bis E-StPO zu unbestimmt ist. So liegt es nicht nur im Ermessen des Gerichts, was als schwere Beeinträchtigung der Integrität einer Person zu qualifizieren ist, sondern auch, wann eine Gefahr als «ernsthaft» gilt.

 

2.4 Haftbeschwerderecht der Staatsanwaltschaft (Art. 222 Abs. 2 und 226a E-StPO)

Gemäss geltendem Recht hat das Zwangsmassnahmengericht (ZMG) die Kompetenz, eine sich in Haft befindliche Person zu entlassen (Art. 226 Abs. 3 StPO). Zudem hat nur die verhaftete Person ein Beschwerderecht gegen Haftentscheide des ZMG (Art. 222 StPO), womit die EMRK-rechtlich vorgeschriebene Haftentlassungskompetenz des Gerichts (vgl. Art. 5 Ziff. 3 EMRK) gewahrt bleibt. Allerdings stellte das Bundesgericht bereits mit Entscheid vom 17. Februar 2011 (!) fest, dass die Nichterwähnung der Staatsanwaltschaft in Art. 222 StPO als beschwerdeberechtigte Partei nur ein gesetzgeberisches Versehen sein könne und führte das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft contra legem ein. Diese Rechtsprechung des Bundesgerichts soll nun in die StPO überführt werden (Art. 222
Abs. 2 E-StPO), wobei für die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ein beschleunigtes Beschwerdeverfahren gelten soll (Art. 226a E-StPO).

Das vorgesehene Haftbeschwerderecht der Staatsanwaltschaft und das damit zusammenhängende Verfahren führen allerdings zu einem krassen Verstoss gegen Art. 5 Ziff. 3 EMRK. So hat das ZMG keine unmittelbar wirkende Haftentlassungskompetenz mehr, muss doch die beschuldigte Person vorläufig weiterhin in Haft verbleiben, wenn die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen haftbeendende Entscheide erhebt.

Die vorbeschriebene Problematik wurde offenbar seitens der RK NR erkannt, verlangte deren Mehrheit doch nicht nur die Streichung der vorgeschlagenen Regelung, sondern die Ergänzung von Art. 222 Abs. 1 StPO dahingehend, dass «einzig die verhaftete Person» Beschwerde erheben kann. Der Nationalrat ist diesem Antrag gefolgt. Auch hier bleibt die Diskussion im Ständerat abzuwarten, wobei der Nationalrat zumindest ein ebenso klares wie richtiges Zeichen dahingehend ausgesendet hat, dass der Verzicht auf ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft eben kein gesetzgeberisches Versehen darstellt, sondern ein wohlüberlegter Entscheid der Legislative im Lichte der konventionsrechtlichen Vorgaben.

 

3. Ausblick

Man kann sich durchaus die Frage stellen, ob ein nur gerade zehnjähriges Gesetz bereits einer Revision bedarf – dies gilt umso mehr, als man bei Durchsicht des Revisionsentwurfs den Eindruck gewinnt, als sollte die Revision fast ausschliesslich der Stärkung der ohnehin bereits stark ausgeprägten Kompetenzen der Strafverfolgungsbehörden dienen, während die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person (weiter) geschwächt werden.

Zumindest was die soeben beleuchteten Entwicklungen im Gesetzgebungsprozess in Bezug auf die Einschränkung des Teilnahmerechts der beschuldigten Person sowie das Haftbeschwerderecht der Staatsanwaltschaft betrifft, gehen diese m.E. allerdings in die richtige Richtung. Es bleibt zu hoffen, dass der Ständerat dem Ruf als «chambre de réflexion» gerecht wird und dem Nationalrat zumindest in diesen Punkten folgt, aber zudem auch dem ausufernden und grundsätzlich ins Polizeirecht gehörenden Haftgrund der qualifizierten Wiederholungsgefahr Grenzen setzt. Gleichermassen bleibt insbesondere mit Blick auf das Haftbeschwerderecht der Staatsanwaltschaft zu hoffen, dass das Bundesgericht dem Gesetzgeber nicht erneut einen Strich durch die Rechnung machen wird.

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