Über 60, arbeitslos und ausgesteuert! Ist das der finanzielle Untergang?

Für ausgesteuerte Arbeitslose blieb nach dem Bezug von Arbeitslosentaggeldern bei bleibender Erwerbslosigkeit bis 1. Juli 2021 oft nur der Gang zum Sozialamt übrig. Das per 1. Juli 2021 in Kraft getretene Bundesgesetz über Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose (ÜLG) verschafft nun Abhilfe. Ziel des neu geschaffenen Leistungsanspruchs ist es, die Existenz ausgesteuerter älterer Personen bis zum Erreichen des Rentenalters sicherzustellen.Autor: lic. iur. Nicole Gierer Zelezen
Über 60, arbeitslos und ausgesteuert! Ist das der finanzielle Untergang?

Wer in der Schweiz wohnt, unselbständig erwerbstätig ist und arbeitslos wird, hat Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, sofern auch die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Wird eine Person ab 55 Jahren arbeitslos und findet keine Neuanstellung mehr, so endet der Anspruch auf Arbeitslosentaggelder nach einer Bezugsdauer von maximal 520 Tagen. Wer bisher keine neue Anstellung gefunden hatte, musste bis zum Bezug der Rentenleistungen entweder von den Ersparnissen leben, oder beim Sozialamt für Unterstützungsleistungen anklopfen. Neu können Personen, die nach dem 60. Altersjahr ausgesteuert werden und somit keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosentaggeld haben, gestützt auf das ÜLG Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose beantragen.

 

 1. Ausgangslage

Nehmen wir an, Frau Meier ist 58 Jahre alt, als sie von ihrem Arbeitgeber aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage die Kündigung erhält. Frau Meier hat seit jeher immer in der Schweiz gearbeitet, auch wenn sie ihr Pensum während der Kindererziehung teilweise stark reduziert hatte. Heute sind die Kinder erwachsen und bedürfen keiner Betreuung oder finanzieller Unterstützung mehr, da sie selbst erwerbstätig sind. Auch wenn Frau Meier keine Unterstützungsleistungen für andere mehr erbringen muss, wird ihr schnell klar, dass sie ohne Erwerbseinkommen keine Chance hat, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

 

 2. Arbeitslosentaggeld

Frau Meier ist gesund, ist immer gerne zur Arbeit gegangen und möchte daher unbedingt bis zur Pensionierung weiterhin erwerbstätig sein. Trotz des vorübergehenden Schocks über die Kündigung schreitet sie rasch zur Tat und bewirbt sich für neue Stellen. Gleichzeitig meldet sie sich bei der Regionalen Arbeitsvermittlung zum Bezug von Arbeitslosentaggeld an und wählt eine Arbeitslosenkasse aus, welche die ihr zustehenden Leistungen ausrichten soll.

Nach Ablauf der Kündigungsfrist hat Frau Meier zu ihrer grossen Enttäuschung noch keine Neuanstellung gefunden. Zum Glück erfüllt Frau Meier alle Anspruchsvoraussetzungen und hat damit fortan Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Nach Ablauf der Wartetage (max. 20 Tage) erhält sie 70 % ihres vorgängigen Lohns. Immerhin kann sie damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Grosse Sprünge oder gar Rückstellungen für die in ein paar Jahren anstehende Pensionierung liegen allerdings nicht mehr drin.

Es vergehen Wochen und Monate. Frau Meier bewirbt sich regelmässig auf ausgeschriebene Stellen, nimmt an Kursen der Regionalen Arbeitsvermittlung teil und bildet sich sogar weiter. Dennoch ist keine neue Anstellung in Sicht. Nach 520 Tagen des Bezugs von Arbeitslosentaggeld steht sie noch immer ohne neue Anstellung da. Bis zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes über Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose (ÜLG) am 1. Juli 2021 endete damit der sozialversicherungsrechtliche Anspruch auf Unterstützungsleistung. War die Existenzsicherung mit eigenen Mitteln (Vermögen, Bezug von Altersguthaben aus der zweiten und dritten Säule, Frühpensionierung) nach der Aussteuerung nicht mehr möglich, so blieb nichts anderes übrig, als sich beim Sozialamt für Unterstützungsleistungen anzumelden. Verbesserte sich zu einem späteren Zeitpunkt die finanzielle Situation doch wieder (zum Beispiel durch Erwerbseinkommen, Erbschaft oder Lottogewinn), so mussten die bezogenen Leistungen je nach Kanton vollumfänglich zurückerstattet werden.

 

3.  Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose

Seit 1. Juli 2021 ist nun das ÜLG in Kraft, welches Unterstützungsleistungen für ältere Arbeitslose vorsieht. Gemäss Art. 3 ÜLG haben Personen ab 60 Jahren, die ausgesteuert sind, Anspruch zur Deckung ihres Existenzbedarfs. Dieser Anspruch dauert entweder bis zum Erreichen des ordentlichen Rentenalters der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) oder bis die Altersrente frühestens vorbezogen werden kann, wenn dann absehbar ist, dass die betroffene Person bei Erreichen des ordentlichen Rentenalters einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat. Eine Person gilt im Sinne der Arbeitslosenversicherung als ausgesteuert, wenn sie ihren Anspruch auf Taggelder ausgeschöpft hat oder wenn ihr Anspruch auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung nach Ablauf der Rahmenfrist für den Leistungsbezug erloschen ist und anschliessend keine neue Rahmenfrist für den Leistungsbezug eröffnet werden kann.

 

3.1. Wer hat Anspruch auf Überbrückungsleistungen?

Anspruch auf Überbrückungsleistungen haben Personen mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz oder einem Mitgliedstaat der EU oder EFTA (wobei die Ausgaben an die Kaufkraft des jeweiligen Landes angepasst werden), wenn:

  • sie im Monat, in dem sie das 60. Altersjahr vollenden, oder danach ausgesteuert werden
  • sie mindestens 20 Jahre in der AHV versichert waren, davon mindestens 5 Jahre nach Vollendung des 50. Altersjahrs, und dabei jährlich ein Erwerbseinkommen von mindestens CHF 21’510.00 (Stand 2022) erzielt haben, oder entsprechende Erziehungs- und Betreuungsgutschriften gemäss AHVG geltend machen können
  • ihr Reinvermögen bei alleinstehenden Personen kleiner als CHF 50’000.00 und bei Verheirateten kleiner als CHF 100’000.00 ist.

Keinen Anspruch auf Überbrückungsleistungen haben hingegen Personen, die einen Anspruch auf eine IV-Rente haben oder die Altersrente vorbeziehen. Diese Personen können jedoch Ergänzungsleistungen beantragen und sind daher nicht schlechter gestellt als Bezüger von Überbrückungsleistungen.

 

3.2. Welche Leistungen erhalten Bezüger*innen von Überbrückungsleistungen?

Die Überbrückungsleistungen bestehen gemäss Art. 4 ÜLG aus der jährlichen Überbrückungsleistung und der Vergütung der Krankheits- und Behinderungskosten. Dabei werden die Überbrückungsleistungen gleich berechnet wie die Ergänzungsleistungen. Die Leistungen entsprechen dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen. Gemäss Art. 7 ÜLG beträgt die Leistung bei alleinstehenden Personen max. CHF 44’123.00 resp. bei Ehepaaren max. CHF 66’184.00. Krankheits- und Behinderungskosten werden jährlich bis zu einem Betrag von maximal CHF 5’000 bei alleinstehenden Personen bzw. CHF 10’000 Franken bei Ehepaaren vergütet, sofern der maximale Betrag der Überbrückungsleistungen nicht bereits erreicht wird. Zu den Krankheits- und Behinderungskosten zählen z.  B. zahnärztliche Behandlungen, Mehrkosten für lebensnotwendige Diäten, Transporte zur nächstgelegenen Behandlungsstelle, Kosten für Hilfsmittel und Beteiligung an den Kosten der Krankenkasse (Selbstbehalt und Franchise) bis zum Betrag von jährlich CHF 1’000.

 

3.3. Besteht weiterhin eine Pflicht, sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren?

In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Bezug von Überbrückungsleistungen nicht wesentlich vom Bezug von Sozialhilfeleistungen. Der Bundesrat kann gemäss Art. 5 ÜLG vorsehen, dass die Bezüger*innen von Überbrückungsleistungen nachweisen müssen, dass sie ihre Bemühungen um Integration in den Arbeitsmarkt fortsetzen. Der Empfänger von Überbrückungsleistungen muss sich daher weiterhin um die Integration in den Arbeitsmarkt bemühen. Es werden beispielsweise folgende Integrationsbemühungen und Engagements anerkannt:

  • Freiwillige Arbeitsvermittlung durch das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV);
  • Bewerbungsschreiben;
  • Teilnahme an Integrationsmassnahmen;
  • Freiwilligenarbeit;
  • Teilnahme an Sprachkursen;
  • Coaching;
  • Pflege und Betreuung von Angehörigen oder Bekannten.

 

3.4. Wo müssen die Leistungen beantragt werden?

Die Leistungen sind bei der zuständigen kantonalen Ausgleichskasse zu beantragen. Im Kanton St.Gallen kann das Antragsformular bei der Sozialversicherungsanstalt St.Gallen beantragt werden.

 

3.5. Wichtige Merkpunkte

Beim Bezug von Überbrückungsleistungen gilt es wie beim Bezug von anderen sozialversicherungsrechtlichen Leistungen zu beachten, dass die bezugsberechtigten Personen diverse Meldepflichten haben, da sich eine Veränderung in der Lebenssituation auf die Anspruchsberechtigung auswirken kann. Wer diese Meldepflicht verletzt, kann mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft werden.

 

  1. Wie geht es mit Frau Meier weiter?

Frau Meier erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen und kann damit nach erfolgter arbeitslosenversicherungsrechtlicher Aussteuerung bis zur Pensionierung auf Überbrückungsleistungen des Staates zählen. Wäre sie vor dem 1. Juli 2021 ausgesteuert geworden, hätte sie nicht so viel Glück gehabt. Der Gang zum Sozialamt hätte sich wohl nicht vermeiden lassen, wenn die Arbeitslosigkeit bis zur Pensionierung angehalten hätte.

Fazit

Dank des neuen Gesetzes werden die Folgen der Erwerbslosigkeit in den Jahren vor der Pensionierung etwas abgefedert. Was unverändert bleibt: Personen, die das Manko mit gespartem Vermögen decken können, müssen zuerst das Vermögen aufbrauchen, bevor ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen besteht.

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